Fallbeispiel zur Implementierung von Ehrenamtsmanagement
Das nachfolgende Interview wurde 2016 im Buch: „Freiwilligenmanagement in der Praxis“ veröffentlicht.
Reifenhäuser, Carola; Bargfrede, Hartmut; Hoffmann, Sarah; Reifenhäuser, Oliver; Hölzer, Peter; Teryik, Elisabeth: Freiwilligenmanagement in der Praxis,
Beltz Juventa Verlag, 2016
„Wir brauchen einen Anwalt für die Ehrenamtlichen“
Interview mit dem leitenden Pfarrer, Pater Ralf Winterberg zur Ehrenamtsentwicklung im Seelsorgebereich Heilige Familie Köln Dünnwald-Höhenhaus (Erzbistum Köln).
Den Seelsorgebereich Heilige Familie Köln Dünnwald-Höhenhaus gibt es in der jetzigen Form erst seit 2010. Er ist ein Zusammenschluss aus fünf katholischen Kirchengemeinden in den Kölner Stadtteilen Dünnwald und Höhenhaus. Im Einzugsgebiet des Seelsorgebereichs leben ca. 12.000 Katholiken. Davon sind etwa 800 Menschen aktiv in den fünf Gemeinden. Im Seelsorgebereich gibt es seit 2010 eine Stelle Ehrenamtsentwicklung. Diese wird seit 2015 zu 75 % vom Erzbistum Köln bezahlt und zu 25 % von dem ehrenamtsintensiven Projekt CAFE mittendrin. Im Seelsorgeteam arbeiten derzeit fünf hauptamtliche MitarbeiterInnen.
Pater Ralf Winterberg ist seit 2004 leitender Pfarrer des Seelsorgebereichs Heilige Familie. Er gehört der in Spanien gegründeten Ordensgemeinschaft der Amigonianer an. Neben Theologie hat Pater Ralf noch Sozialpädagogik studiert.
Burkhard Brücker ist studierter Theologe und seit Ende 2014 mit einer vollen Stelle als Ehrenamtsentwickler im Seelsorgebereich Heilige Familie beschäftigt.
„Machen wir denn alles falsch?“. Als wir Hauptamtlichen des Seelsorgeteams uns diese Frage stellten, wussten wir nicht, dass dies einen Entwicklungsprozesses anstoßen würde, der auch nach mehr als fünf Jahren noch nicht abgeschlossen ist. Damals, das war die Zeit, als wir feststellen mussten, dass das uns bekannte Ehrenamt ein Auslaufmodell ist und so nicht mehr funktioniert. Wir stießen mit unserer Herangehensweise und unserem Grundverständnis immer wieder an Grenzen. Damals wussten wir noch nicht, wie man dieses Phänomen nennt, wir wussten nur, dass etwas zu Ende geht und wir noch nicht auf das Neue eingestellt waren. Heute wissen wir, bei uns ging damals die Zeit des „alten“ Ehrenamtes zu Ende, und wir haben den sogenannten „Strukturwandel im Ehrenamt“ zu spüren bekommen.
Es wurde uns schnell klar, dass wir mit dieser Situation nicht alleine da stehen. Denn fast zeitgleich hat das Generalvikariat des Erzbistums Köln die Weiterbildung „Neues Ehrenamt entdecken“ angeboten. Die Ausschreibung und Inhalte der einzelnen Module sprachen uns an, und wir hofften mehr darüber zu erfahren, was sich bei den Menschen und besonders was sich bei den Ehrenamtlichen denn genau verändert hat. Schon zu diesem Zeitpunkt und obwohl wir vor der Weiterbildung noch nicht viel wussten, ahnten wir, dass wir in unserem Seelsorgebereich so etwas wie einen „Anwalt für die Ehrenamtlichen“ brauchen werden. Die Wichtigkeit des Themas wurde auch schon sehr früh von unserem Pfarrgemeinderat erkannt. Dieses Gremium erteilte uns dann auch offiziell den Auftrag, hier aktiv zu werden und mit vier Teilnehmenden (zwei Priester, der Pfarrgemeinderatsvorsitzende und ein Pfarrgemeinderatsmitglied) die Weiterbildung zu besuchen. Parallel wurde auch die Förderung des Ehrenamtes einer der Schwerpunkte in unserem Pastoralkonzept, also der strategischen und theologischen Ausrichtung unseres Seelsorgebereichs. Der Weg für die weitere Entwicklung war geebnet.
In der Weiterbildung wurde uns von Modul zu Modul immer klarer, was bei uns los ist und warum wir für unsere Angebote immer weniger Ehrenamtliche erreichen konnten. Und wir verstanden sehr schnell, was wir tun mussten, um das zu verändern.
Am Anfang unserer Bemühungen standen die Verbesserung der Öffentlichkeit und die Entwicklung von innovativen Projekten. Uns ging es aber schon damals nicht alleine darum, neue Möglichkeiten und Wege zu finden, wie man Menschen besser für ein Ehrenamt gewinnen könnte. Wir wollten mehr. Wir wollten Kontakt zu den Menschen in unserem Stadtteil bekommen, und wir wollten ihnen Möglichkeiten bieten, sich sinnvoll in unsere Gemeinde einzubringen. Durch die Förderung und Weiterentwicklung des Ehrenamtes sollten die Menschen in unserem Stadtteil erreicht werden! Vor allem für die eher traditionellen Gemeindemitglieder war diese neue Ausrichtung irritierend und die Reaktionen darauf nicht immer positiv. Diese Hinwendung zu den Menschen an den Rändern der Kirchengemeinde wurde von manchen als Abwendung von denen empfunden, die sich in der Kerngemeinde befinden.
Für den Seelsorgebereich Dünnwald-Höhenhaus wurde die erste Ehrenamtsentwicklerin im Juni 2011 eingestellt. Sie wurde nicht nur automatisch Teil des Pfarrgemeinderates, dem sie regelmäßig berichtete, sondern auch Teil des hauptamtlichen Pastoralteams. Gerade die hauptberuflichen Kollegen hatten aber zunächst große Schwierigkeiten mit dieser neuen Profession. Dazu beigetragen hat auch, dass zu Beginn die Rolle, die Aufgaben und Kompetenzen der Ehrenamtsentwicklerin für alle nicht klar waren. Was sollen andere Hauptamtliche an sie abgeben und inwieweit sollen sie sich an die Qualitätsstandards halten, die parallel von ihr entwickelt wurden? Der Widerstand war vorprogrammiert, und vor allem für die erste Ehrenamtsentwicklerin war dieser Prozess sehr kraftraubend.
Mittlerweile wird die Ehrenamtsentwicklung vom hauptberuflichen Pastoralteam akzeptiert. Nicht zuletzt, weil auch die Widerstände und Diskussionen geholfen haben, die Rolle besser zu klären und im Team der Hauptamtlichen eine gemeinsame Haltung gegenüber Ehrenamt und den Ehrenamtlichen zu erlangen. Zudem trifft sich der neue Ehrenamtsentwickler regelmäßig mit einen Lenkungsteam, das sich „Qualitätszirkel“ nennt. Hier sitzen neben dem leitenden Pfarrer auch Vertreter des Pfarrgemeinderats und auch ein Vertreter des Generalvikariats. Mit dem Mitarbeiterwechsel 2014 hat sich auch die Ehrenamtsentwicklung räumlich weiter aus den gemeindlichen Strukturen hinein in die Lebenswelten der Bewohner der Stadtteile bewegt. Der derzeitige Ehrenamtsentwickler hat sein Büro im CAFE mittendrin, einem vom Seelsorgebereich im Zentrum von Dünnwald betriebenen und für alle zugänglichen Café. Dieser Umzug zeigt auch den vollzogenen Kulturwandel. Denn im Fokus sollen nicht mehr die zu vergebenen Ehrenämter und Aufgaben innerhalb der Kirchengemeinde stehen, sondern im Mittelpunkt stehen die Ehrenamtlichen als Menschen. Diese sollen sich in einem geschützten und organisierten Rahmen frei mit ihren Möglichkeiten einbringen können. Derzeit gibt es im Seelsorgebereich Dünnwald Höhenhaus zwei große caritative Projekte, in denen das gut geht. Das bereits erwähnte CAFE mittendrin und der Familientreff Klamöttchen. Die neue Haltung beschreibt Pater Ralf so. „Wir sind der Überzeugung, dass wenn man relaxt an die Sache rangeht und die Menschen merken, dass sie beschützt sind und die Organisation keine Signale aussendet, dass sie vereinnahmt werden, rücken diese automatisch näher an die Organisation, also die Kirche heran. Und das ohne Druck, sondern aus Interesse und der Lust die positiven Dinge, die die Kirche bietet, mitnehmen zu können“.
Die Ehrenamtlichen, speziell für diese beiden Projekte, werden aktiv über Veröffentlichungen in der Gemeinde oder durch Artikel in Kölner Zeitungen geworben. Am besten funktioniert aber immer noch die Werbung durch die bereits aktiven Ehrenamtlichen, denn Vieles läuft hier noch über Mund-zu-Mund-Propaganda. Eine große Rolle spielt jedoch auch, in welcher Qualität die Angebote gemacht werden. Passt das, ist es nicht schwer, Menschen für ein Engagement zu gewinnen.
Mit jedem Interessierten wird dann vom Ehrenamtsentwickler ein Erstgespräch geführt. Hierfür gibt es einen Gesprächsleitfaden. Fortbildungsangebote werden derzeit nur von wenigen Ehrenamtlichen genutzt. Vor allem sind es die leitenden ehrenamtlichen Mitarbeitenden, die von dieser Möglichkeit der Weiterqualifizierung Gebrauch machen. Dafür wird aber ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch für die Ehrenamtlichen organisiert. Einmal pro Jahr laden die Hauptamtlichen zu einem Dankeschön Essen ein. Man versucht, Kontakt zu den Ehrenamtlich zu halten, zu besonderen Anlässen persönlich zu gratulieren und gezielt zu gemeinsamen Aktionen einzuladen.
Die Öffnung und Hinwendung des Seelsorgebereichs hin zum Sozialraum, also hin zu den Menschen die auch außerhalb der Kirchgrenzen leben, ist aufgrund der geografischen Lage der beiden Stadtteile Dünnwald und Höhenhaus günstig. Sie sind Teil der Stadt Köln, aber sie liegen an dessen äußerer Grenze. In Dünnwald und Höhenhaus leben viele „Alteingesessene“, die sich seit Jahren kennen und die sozial gut vernetzt sind. Es gibt aber auch eine ganze Menge Menschen, die hinzugezogen sind und die ursprünglich den Ort nur „zum Schlafen“ nutzen wollten. „Dann merken diese aber, dass hier im Viertel viel passiert und sich viel bewegt. Gerade die Neuzugezogenen sind auch diejenigen, die offen waren für die neuen Angebote und die sich für eine Verbesserung der Wohnqualität und des sozialen Miteinanders und auch für Randgruppen engagieren wollten.“
Für den Seelsorgebereich spielen Neue Medien eine immer wichtigere Rolle. Bestimmte Milieus lassen sich nur über diese Wege gut erreichen. „Dies sind dann aber auch die Menschen, die nicht nur Mitmachen wollen. Sie erwarten, dass sie Projekte selbst in die Hand nehmen und diese auch frei gestalten dürfen“. Zukünftig soll diese Zielgruppe verstärkt angesprochen werden. Mittelfristig sollen Menschen verstärkt befähigt werden, eigene Vorstellungen und Projekte umzusetzen. Und dies idealerweise nicht nur für caritative Zwecke, sondern auch dafür, „ihrer Spiritualität Ausdruck zu verleihen. In unserem Verständnis gehört dies auch zu unserem Kernauftrag“.
Für Pater Ralf Winterberg passt das Thema Inklusion zum Grundverständnis von Kirche. „Wir sind und wollen grundsätzlich auch offen sein für Alle. Es gibt hierzu zwar kein offizielles Statement, aber eine gelebte Wirklichkeit. Denn unsere Angebote ziehen natürlich auch Menschen an, die trotz Armut, einer Behinderung oder Erkrankung teilhaben möchten. Das ist auch kein Problem, solange das Projekt, in dem sie aktiv sind, bereit ist, die Besonderheiten aufzufangen. Das Verhältnis und die Mischung müssen also passen, denn manche Ehrenamtliche brauchen einfach Begleitung von anderen oder finanzielle Ressourcen, um sich ein Ehrenamt leisten zu können.“
Schließlich zieht er noch eine umfassende Bilanz, und er formuliert einige Wünsche. „Wir haben uns mit einem aktuellen und zukunftsweisenden Thema befasst und es dabei geschafft, unser Wesen als Kirche nicht über Bord zu werfen. Sogar im Gegenteil, wir haben es dadurch wieder stärker gefunden. Hätten wir das Thema Ehrenamt nicht in Angriff genommen, so säßen wir jetzt in unseren alten Gruppen und Gebäuden und würden rumweinen, warum keiner in unser Kaffeekränzchen kommt. Viele der langjährigen Ehrenamtlichen können nicht mehr. Sie sind hochbetagt und können aus gesundheitlichen Gründen das alles nicht mehr tragen. Wir haben gelernt, den neuen Typus von Ehrenamtlichen zu verstehen und uns auf sie einzustellen. Dies nicht mit Verbitterung oder Trauer, sondern mit einem guten Verständnis für die persönlichen Gründe. Wir mussten viel lernen, und wir werden weiterhin lern- und anpassungsfähig bleiben müssen. Uns als Gemeinde tut das gut.
Die vor einigen Jahren neu geschaffene Stelle Ehrenamtsentwicklung war gerade für die schon engagierten Menschen bei uns eine Bereicherung. War für sie zuvor die zentrale Ansprechperson der Pfarrer, so hatten sie nun mit dem Ehrenamtsentwickler einen verlässlicheren Ansprechpartner, der nicht nur mehr Zeit für ein Gespräch oder eine Beratung hat, sondern auch auf eine „andere“ Weise Anerkennung und Wertschätzung zeigen kann. Zudem schätzen gerade die in den beiden großen Projekten engagierten Ehrenamtlichen die Qualität und professionellen Strukturen, die durch die beiden bisher aktiven Ehrenamtsentwickler geschaffen wurde. Wir sind überzeugt, dass sich Menschen so länger und zufriedener engagieren werden, als wenn sie Ausbeutung, Stress und schlechte Organisation erleben würden.
Neben den spürbaren positiven Effekten für die Gemeinde, gibt es für mich als Pfarrer zum anderen aber auch mehr Arbeit. Vor allem die Gespräche und die Abstimmung mit den Verantwortlichen für die Ehrenamtsentwicklung sind zeitintensiv. So etwas gab es natürlich vorher nicht. Die Vorstellung, ich stelle mir einen Ehrenamtsentwickler ein, der mir dann als Pfarrer die Arbeit abnimmt, ist unrealistisch.
Eine nachhaltige Verankerung des Freiwilligenmanagements in unserem Seelsorgebereich ist weiterhin eine der wichtigsten Aufgaben. Im Grundsatz musste sich der Ehrenamtsentwickler im Laufe der Zeit selbst überflüssig machen. Das wird so natürlich nicht passieren. Dennoch müssen andere Akteure mit in die Ehrenamtsentwicklung eingebunden werden. Es müssen also Unterstützungsstrukturen aufgebaut werden, in denen qualifizierte haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende Verantwortung, z. B. für den Aufbau und die Begleitung von Ehrenamtlichengruppen, übernehmen können. Es ist jetzt schon erkennbar, dass es langfristig ein ganzes Team von Ehrenamtsentwicklern braucht, um das Thema weiterzuentwickeln und weiter zu verfestigen.
Ich würde mir wünschen, dass in der Organisation Kirche die Ehrenamtsentwicklung zu einer normalen Profession wird und Ehrenamtsentwickler mit der gleichen Selbstverständlichkeit eingestellt werden wie Gemeindereferenten. Momentan müssen wir uns noch immer fürchten, dass die Finanzierung unserer einen Stelle durch das Bistum irgendwann ausläuft. Nicht verschweigen möchte ich den geistlichen Mehrwert, den die Ehrenamtsentwicklung für den kirchlichen Kontext hat. Sie hilft Menschen, ihre „Berufung“ im Leben zu finden. Getaufte kommen ihrer Begabung – ihrem „Charisma“ auf die Spur. Aber auch die vielen Sinnsucher fühlen sich wohl im Austausch mit anderen Ehrenamtlichen, um „ganz so nebenbei“ einem Grund auf die Spur zu kommen, um weiter zu hoffen und sich des Lebens zu freuen.“